San Giovanni Rotondo, 20. September 1918. An Brust, Händen und Füßen des Kapuzinermönchs Pio von Pietrelcina treten sichtbare blutende Wunden auf. Es ist der Tag der Stigmatisierung Pios, der sich heute zum 100. Mal jährt, Anlass genug, den nicht unumstrittenen Heiligen zu würdigen. Das Leben und Werk des heute als Padre Pio bekannten und in Italien gerne als Nationalheiligen bezeichneten Priesters ist so umstritten wie bemerkenswert. Besonders seine Stigmata, die Pio meist durch das Tragen fingerloser Handschuhe verbarg, polarisieren und kommen auch innerhalb der Kirche nicht bei allen gut an. Wegen der Stigmata muss Pio interne Untersuchungen über sich ergehen lassen, wird der Betrügerei verdächtigt. Seine Nähe zum Übernatürlichen, Okkulten ist zu Lebzeiten des manch Älteren noch als Zeitgenosse bekannte Pater nicht gerne gesehen. Rom verbat dem als Beichtvater hochgeschätzten Pio zeitweise sogar in der Öffentlichkeit aufzutreten, und die heilige Messe zu lesen. Ungebrochen ist jedoch die Faszination, die Pio auf seine Anhänger ausübt. Sein Charisma, seine Nähe zum Menschen und sein unermüdlicher Drang Leiden zu lindern, sind hier wohl von größerer Bedeutung für die Rolle die Pio zu Lebzeiten und noch heute einnimmt.
Die Stigmata sind, bei der Betrachtung Pios Lebens und Werkes- der Padre hat es geschafft in einer der strukturschwächsten Gegenden Italiens ein Krankenhaus zu bauen, das heute zu einem der modernsten Kliniken weltweit zählt- nur ein Aspekt, aber eben ein sehr spannender. Denn weder die Kirche, noch die Wissenschaft kann bis heute behaupten, das Vorkommen der an die Wunden Jesu erinnernden Wundmale abschließend geklärt zu haben. Pios Wunden bluteten 50 Jahre und 3 Tage, bis zu seinem Tod im Alter von 81 Jahren am 23. September 1968, dieser jährt sich also in 3 Tagen zum 100. Mal.
Die Bürde der Stigmatisierung: Erklärungen, Anschuldigungen und Imagefragen
In San Giovanni Rotondo, wo Pio ab 1916 bis zu seinem Tod aus gesundheitlichen Gründen in einem kleinen Kapuzinerkloster lebte, steht heute die „Casa Sollievo della Sofferenza“ (dt.: Haus zur Linderung des Leidens), ein riesiger hochmodernen Krankenhauskomplex und daneben, Ziel unzähliger Pilger, die Wallfahrtskirche des italienischen Stararchitekten Renzo Piano in der Pios sterblichen Überrest in einem gläsernen Sarg aufgebahrt sind. Als sein Leichnam im Frühjahr 2002 exhumiert wurde, staunten die Anwesenden nicht schlecht, der Grad der Verwesung seines Körpers war ungewöhnlich wenig fortgeschritten, „seine Hände wirkten“, wie der anwesende Erzbischof Domenico Umberto D’Ambrosio zitiert wird, „wie frisch manikürt“. Der als Reliquie verehrte Leichnam ist seither öffentlich aufgebahrt, lediglich das Gesicht mit den markanten Brauen wird von einer kunstfertig hergestellten Wachsmaske verdeckt. Die Übersinnlichkeit begleitet Pio über den Tod hinaus.
Franz von Assisi und Pio, Heilige mit Stigmata
In der Kirchengeschichte ist die Stigmatisierung, das plötzliche Auftreten von blutenden Wundmalen an den Stellen, an denen Jesus Christus bei der Kreuzigung verletzt wurde, die, nicht heilen und sich nicht entzünden kein neues Phänomen. Der erste Heilige mit Stigmata war Franz von Assisi, bei dem blutende Wundmale im September 1224 auftraten und der nie im Verdacht stand, sich diese selber beigebracht zu haben. 13 Stigmatisierte wurden von der Kirche seither heilig und einige mehr selig gesprochen- manche Quellen sprechen von bis zu 80 “anerkannten Stigmatisierten“. Grund für die Anerkennung ist oder war jedoch in keinem Fall das Auftreten der nicht erklärbaren Wunden, die in den Begründungen bloß am Rande erwähnt werden. Die Stigmata, von einer Kommission des Heiligen Stuhles unmittelbar nach ihrem Auftreten dokumentiert und vielfach untersucht, tragen vor allem zum Widererkennungswert Pios bei und liefern Kritiker eine willkommene Angriffsfläche.
Doch weder die Untersuchungskommission, noch der Historiker Sergio Luzzatto, der in seinem Buch „Padre Pio. Wunder und Politik im Italien des 20. Jahrhunderts" Ergebnisse dieser zitiert, wonach Pio in einer Apotheke in Foggia nachweisbar große Mengen des Nerven- und Insektengifts Veratrin bezogen hätte, geeignet, um die Wundmale hervorzurufen und nicht heilen zu lassen, können Pios Verdienste schmälern und seine Ruf ernsthaft schädigen. Pios Bekannt- und Beliebtheit lässt sich durch Vieles erklären, das Übersinnliche mag Faszinieren, doch ohne Seine Gabe als Beichtvater, seine charismatischen Predigten und Gebetsstunden, von denen noch heute die vielen Padre Pio Gebetsgruppen weltweit zeugen und sein soziales Engagement, das letztlich in der Erbauung und Eröffnung der Casa Sollievo della Sofferenza mündete, hätte Pio heute nicht den Stellenwert, den er hat.
Das unerklärliche Phänomen
Natürlich sucht seit dem ersten Auftreten von Stigmata auch die Wissenschaft nach Beweisen für deren Existenz und Vorkommen. Die katholische Kirche und auch einige Naturwissenschaftler erkennen Autosuggestion -also eine psychische Kraft- als Ursache an. Doch auch diese Erklärung des Phänomens hielte einer rein faktischen Überprüfung des Phänomens nicht stand, wie Dr. Nicola Silvestri, zu diesem Zeitpunkt Vizeleiter des von Pater Pio gegründeten Krankenhauses und Pflegeheims "Casa Sollievo della Sofferenza", im Rahmen des Päpstlichen Athenaeum "Regina Apostolorum" im April 2002, kurz vor Pios Heiligsprechung, erläutert. "Die echten bisher untersuchten Stigmata zeichnen sich durch ihre interne und externe Charakteristik aus, welche die Naturgesetze übersteigen, die wiederum die Physiopathologie regulieren. Man muss sie also als übernatürliches Phänomen betrachten", beschließt der Arzt seinen Vortrag und stößt Pios zum Teil sehr heftigen Kritikern erneut vor den Kopf.
Rehabilitätion und zunehmende Popularität
Nach einer Phase der Skepsis und Sanktionen innerhalb der katholischen Kirche wird Pios Wirken seit den 1970ger Jahren, und dies steht auch mit der Haltung des jeweilig amtierenden Papstes in Zusammenhang, anerkannt. Spätestens seit seiner Heiligsprechung im Jahr 2002 durch Papst Johannes Paul, zu dem er schon früh eine tiefe Verbindung hatte und dem er, so wird es überliefert, sowohl die Wahl zum Papst, als auch einen gescheiterten Anschlag auf ihn vorausgesagt hat, gilt Pio als Italiens Nationalheiliger.
Inzwischen steht eher die mit ihm verbundene Vermarktung im Mittelpunkt der Kritik, auch aus den Reihen der Kirche selber. Der Vorwurf lautet, dass die Kirche in Zeiten, in denen sie sich vom Übersinnlichen distanzieren wollte, von Pio abwand, um ihn dann als ihr die Gläubigen abhanden kommen aufgrund seiner Massentauglichkeit mit und trotz all der ihn begleitenden Mystik kritikfrei zu instrumentalisieren. Eines ist sicher, an Pio kommt in Italien niemand vorbei und das ist auch gut so. Denn Pio nutzte seine Bekanntheit, und hier haben die Stigmata sicher geholfen, um sein Werk voranzutreiben.
Pios Werk
Anders als seine Voraussagungen, Erscheinungen und Stigmata, die Pios mystische Seite darstellen und ihn angreifbar machen, hat Pio mit seinem Glauben und seinem Streben zur Linderung von Leid seinen Nachkommen sehr Konkretes hinterlassen.
Mit der Eröffnung des Krankenhaus Casa Sollievo della Sofferenza mit angeschlossenem Forschungszentrum und dem Altenpflegeheim Casa Padre Pio, das zwar erst nach seinem Tod, aber aufgrund seiner Vorgaben entstanden ist, hat Pio gezeigt, dass der Glaube, wie sagt man so schön- Berge versetzen kann.
In den Wirren des Zweiten Weltkrieges begann der Padre mit dem einschüchternden Blick Spenden zu sammeln und mitten im steinigen Nirgendwo ein Krankenhaus zu bauen, das jeden Menschen respektiert und offen steht. Die Lehren Pios, der seelisches und körperliches Leid am eigenen Leib erlebt hat, und der sich Zeit seines Lebens für die Linderung von Leid eingesetzt hat, werden in den von ihm ins Leben gerufenen Institutionen bis heute fortgeführt.